Nach Lektüre von Texten wie “Mein Jahr in der Linkspartei” und “Der Sozialismus ist gar nicht so übel” in der FAZ (der Artikel ist nicht mehr online verfügbar, aber das Teilfazit) tauchen manchmal Ideale, die Realität da draußen, und die Annäherung beider aneinander auf. Dieser Text verblieb lang, wirr, ohne Folgerungen, selbst nach mehreren Bearbeitungen mit einigen Monaten Zeit dazwischen.
Es geht mir gut.
Aber wenn Tanja als Erzieherin in Deutschland die Hälfte meines Gehalts bekommt leistet sie wahrscheinlich mehr als ich für die Gesellschaft. Meine Werteste fügt bei dieser Überlegung die reine Marktwirtschaft als Verteidigung an – es gibt wenige Menschen, die meinen Job machen können oder wollen. Ich betrachte mich als Wissensarbeiter im Sinne von Peter Drucker.
Mir geht ein “Ich verdiene ganz gut” nicht einfach über die Lippen. Bei Freunden ist das okay, mit einem leichten Lächeln dazu. Bei (in einigen Kulturen als unverschämt betrachteten) Nachfragen nach Genauerem antworte ich mit “Klar, wenn Du Dir sicher bist, daß sich dadurch nicht unser Verhältnis und Deine Sichtweise ändern”. Das fühlt sich manchmal merkwürdig an, wenn Bekannte politisch eher links stehen.
Gerechtigkeit.
Als ich 15 war, war ich grün. Einmal im Monat ging es zum Treffen des “Grünalternativen Jugendbündnisses”. Die Ideale mitsamt ihren Gegnern waren einfach, wohl ähnlich den Zeiten als Teile der westlichen Atmosphäre den Feind einfach systematisch im Osten verorten konnten. Und dann saß ich an einem Mittwoch abend im Auto und hörte, daß Deutschlands rot-grüne (und daher wohl eher linke?) Bundesregierung damit begonnen hatte Jugoslawien zu bombardieren. Da wurde ich dann auf einmal linker als ich wollte, denn es gab nur die PDS im Parlament, die gegen diesen Krieg gestimmt hatte. Da ich nachtragend bin, habe ich viele Jahre gebraucht, um die Grünen wieder als teilweise wählbar zu akzeptieren.
Links zu sein ist immer noch hip in der alternativen deutschen Jugendkultur (und rechts klingt nach Nazi und damit automatisch böse, auch wenn deutscher Hiphop in den letzten Jahren außerhalb besagter Jugendkultur eine gewisse Verschiebung eingeleitet hat). In Tschechien ist es eher hip, rechts zu sein, nach 40 gestohlenen Jahren durch die Kommunisten. Das richtet sich nicht zwangsläufig gegen Ausländer oder Minderheiten. In Deutschland ist man überrascht, wenn ich anmerke, daß die tschechische Partei der Grünen nicht links steht wie in Deutschland. So schön die linke Idee ist (Sozialismus, nicht Anarchie), sie endete in den letzten 150 Jahren immer in authoritären Diktaturen. Sozialismus im Kleinen (wie in einer Wohngemeinschaft) könnte funktionieren, wenn man Regeln, Geld und Eifersucht geklärt hat. Geschichtsverklärung ist populär. Die Deutschen besitzen sogar einen Begriff dafür, Ostalgie. In Tschechien gibt es keinen Begriff für die ewig gestrigen (und damit konservativen) Wähler der Kommunistischen Partei, welche im Gegensatz zur ostdeutschen Linken bisher keinerlei Ansätze von Geschichtsaufarbeitung und Reformismus gezeigt hat. Ihre Wähler haben wohl oftmals profitiert in dieser Zeit. Diese Menschen sterben langsam aus.
Eher linksorientierte Menschen sind fast immer an Gerechtigkeit interessiert. Ich schätze diesen edlen Idealismus sehr, hinterfrage dann gerne den Konflikt zwischen Solidarität in der Gesellschaft und dem zunehmendem westlichen hedonistischen Invidualismus.
Meint “Soziale Gerechtigkeit” nun Verteilungsgerechtigkeit (denen, die mehr verdienen etwas wegnehmen und denen, die weniger verdienen dies dann geben, auch wenn erstere manchmal mehr Leistung bringen, sei dies nun persönlich gewollt oder nicht) oder “nur” Chancengerechtigkeit (denen, die aus einem ärmeren Elternhaus kommen die gleichen Bildungschancen gewähren)? Und was ist genau diese “Umverteilung”, nachdem die “soziale Gerechtigkeit” in den letzten zehn Jahren von wohl allen größeren deutschen Parteien beansprucht wurde?
Ich weiß, daß ich das deutsche Grundgesetz mag. Ich mag keine Bestrebungen, die meine Rechte aufgrund eines “abstrakten Gefährdungspotentials” einschränken, und es beunruhigt mich daß getroffene Maßnahmen nicht nach einiger Zeit auf ihre Effektivität überprüft werden. Ich klage, wenn nötig, um diese Freiheit zu verteidigen, denn ich sehe dies als staatsbürgerliche Pflicht an. Ist das nun liberal, oder doch eher republikanisch? Und wenn ich mir nicht sicher bin, dann bin ich konservativ, dann bleibe ich bei dem, was ich habe und sich bewährt hat.
Meine Werteste ist überrascht, daß ich Katholik bin. Religion sei doch etwas für schwache Menschen?
Ich betrachte mich selbst als konservativ und liberal. Freunde und Arbeitskollegen widersprechen. Interessant und sehr hilfreich war der Selbsttest von The Political Compass, welcher neben den Kategorien “Left” und “Right” zusätzlich “Authoritarian” und “Libertarian” aufführt. Seither verstehe ich mich besser mit mir.
Deutschland hat die soziale Marktwirtschaft und einen progressiven Steuersatz. Wer mehr verdient, zahlt auch mehr. Tschechien hat die reine Marktwirtschaft (da sich Vaclav Klaus in den Neunzigern gegen Vaclav Havel durchgesetzt hat) und eine Flattax mit geringem Freibetrag. Jeder zahlt hier also einen gleich hohen Prozentsatz an Steuern. Aber was ist nun gerechter?
In beiden Ländern durchsuchen Menschen die Mülleimer und sammeln Pfandflaschen im Park, aber in Tschechien sind diese Menschen sehr oft über 60 Jahre alt. In beiden Ländern gibt es menschenverachtende Beschäftigungen – ich erinnere mich in Braunschweig an eine Person in der Fußgängerzone, deren einzige Beschäftigung es war, ein Schild hochzuhalten, auf welchem ein Restaurant 50 Meter weiter beworben wurde. daß ich allein deshalb nicht betreten würde. In Tschechien passiere ich am Museum eine sicherlich über 70 Jahre alte Dame, welche Rosen aus einer Plastiktüte verkauft. Sicher nicht weil es ihr Spaß macht, sondern vielleicht eher weil ihre Rente zu gering ist (die Dame ist allerdings bekannter, wurde mir gesagt). Das fühlt sich ungerecht an, und ich gebe ihr sehr viel lieber etwas Geld als einem Junkie am Bahnhof (weil ich annehme, daß sie es gemäß meinen Ansprüchen “sinnvoller” nutzt), aber das ändert langfristig nichts.
Wie geht nun das langfristige Ändern im Kleinen, wie geht das im Großen? Sozialismus, oder Demokratie und Marktwirtschaft? Mischformen? Welches Steuersystem?
Sinnloses Raten, aber was wäre aus dem “Dritten Weg” geworden, den Dubček im Prager Frühling einschlagen wollte? Und wenn in meinen Softwareprojekten Meritokratie ziemlich gut funktioniert (trotz des menschlichen egoistischen Machtwillens und des im klassischen Smith‘schen Sinne für die Gesellschaft positiven Wohlstandwillens durch Spezialisierung), warum könnte das nicht auch eine mögliche Lösung für eine zukünftige Staatsform darstellen? Oder skaliert das nicht mehr ab einigen tausend Menschen und bleibt in der Subsidiarität stecken, wie auch der Sozialismus in der WG?
Gibt es eigentlich existierende Staaten, die eine Meritokratie als Gesellschaftsform haben?
Fragen.
Wow! Langer Text! Kurze Mittagspause!
Eigentlich ist das progressive Steuerrecht gerechter, weil eine gewisse Umverteilung zu Gunsten der schlechter bezahlten Jobs stattfindet. Das hat auch den Vorteil, dass solche Jobs attraktiver werden, sich das Verhältnis von “Kein Job” zu “schlechtbezahlter Arbeit” verschiebt.
Aber so ein Steuergesetz darf keine Ausnahmen haben. Ungerechtigkeiten lassen sich deutlich effizienter über direkte Maßnahmen ausgleichen (Kindergeld statt Kinderfreibetrag, z.B.) als über das Steuerrecht.
Manche Ungerechtigkeiten sind auch keine. Wer auf dem Land wohnt und weiter zur Arbeit fahren muss hat den Vorteil auf dem Land zu wohnen und muss den Nachteil des längeren Weges in Kauf nehmen. Gerade im Speckgürtel von Städten ist Pendeln damit Luxus.
Meritokratie kann in einer Gesellschaft nicht funktionieren. Der Grund ist einfach: Es gibt kein objektives Bewertungskriterium und man kann ein Land nicht teilen (Stichwort: Fork).
Wenn das Bewertungskriterium Wahlen sind ist man wieder bei der Demokratie, die funktioniert zwar mehr Schlecht als Recht aber immer noch besser als alle anderen Versuche. Demokratischer Sozialismus hat Charme, scheitern aber am Egoismus des Menschen (und in der Vergangenheit oft genug auch an außenpolitischen Interessen, aber das ist eine andere Frage).
Übrigens sind die Grünen in Bayern sicher deutlich konservativer als die SPD und eigentlich in ganz Deutschland auch eher die Partei der gebildeten Mittelschicht. Und wäre die FDP in Deutschland liberal und nicht neokapitalistisch wäre die politische Situation vermutlich auch anders.
Musikempfehlung: Farin Urlaub – Lieber Staat ;)
@Johannes: Angenommen dass schlechter bezahlte Jobs weniger Verantwortung/Selbständigkeit, weniger Eigeninitiative und weniger Lernen benötigen, warum sollte dies gefördert werden? Ist es für die Gesamtgesellschaft nicht von Vorteil, wenn mehr Verantwortung und Wissen gefördert werden, so daß der Wettbewerb in besser bezahlten Jobs und damit die “Fähigkeiten” eines jeden im Durchschnitt (und damit der Gesellschaft) auch höher sind? Da “bessere” Arbeitsplätze nicht unendlich vorhanden sind bedeutet dies in einem isolierten System zwangsläufig eine Überqualifikation der Leute, die dann mit schlechter bezahlten Jobs vorlieb nehmen müssen. Aber die können ja auswandern (und Braindrain sollte wiederum eine Motivation für Wirtschaft und Politik sein, die Rahmenbedingungen zu verbessern) und andere einwandern (oder befristet in Deutschland arbeiten). Ist ja bereits so, daß viele Deutsche nicht für einen geringen Lohn den Spargel in Deutschland stechen, sondern dies ausländischen Arbeitskräften überlassen.
Objektivität gibt es nie, nur Intersubjektivität, insofern ist das für mich nicht so recht Argument. Wir kommen alle recht gut klar, obgleich Mehrheit Unsinn ist und Verstand stets bei wenigen war (da halte ich es ausnahmsweise mal mit Schiller).
Man kann sehr wohl ein Land teilen, oftmals wird dies aber von Machthabern nicht akzeptiert. Man braucht auch gar keine Teilung, eine angemessene Subsidiarität (oder etwas platter “mehr Autonomie”) würde vollkommen genügen. Da Staatsgrenzen immer weniger einen politischen Einflussbereich für oftmals sich global auswirkende Entscheidungen markieren ist es sogar notwendig, thematisch basierte Einflussbereiche (mit wechselnden Menschen, welche sich jeweils für das spezifische Thema interessieren und nicht versuchen alles abzudecken, da wären wir wieder bei der Meritokratie im Gegensatz zum normalen heutigen Politiker) zu definieren, anstatt auf Territorialität zu pochen.
Bei der Ausrichtung der FDP und der schleichenden Änderung der Wählerschaft der Grünen gebe ich dir recht. Allerdings denke ich, daß das die Grünen selbst noch nicht immer mitbekommen haben (außer vielleicht in Hamburg und Baden-Württemberg), wenn ich ökostalinistische Entscheidungen auf Parteitagen sehe, die dann angenehmerweise doch weit von dem realen Handeln besagter Partei entfernt sind.
Zu jedem Entwickler gehört auch einer, der das Produkt zusammen baut. Jeder sollte das tun, was er am besten kann, aber Voraussetzungen und individuelle Motivation sind unterschiedlich.
Außerdem gibt es immer Jobs die schlecht(er) bezahlt sind, aber trotzdem erledigt werden müssen. Das kann man dann an irgendjemand abschieben, dem es noch schlechter geht, aber das ist für mich kein Gesellschaftsmodell (Stichwort: Spargel stechen). Oder die Jobs werden besser bezahlt, weil sie sonst keiner macht.
Auch in einer Meritokratie hat der jeweilige Führer ein Interesse daran seine Macht zu behalten und auszubauen. Also wird er auch ein hypothetischen Staatsgebiet zusammenhalten und versuchen Teilungen zu verhindern.
Bei GPL-Software kann er das nicht, aber Software ist auch keine gutes Beispiel, weil sie ein immaterielles Gut darstellt. Ein Staat besteht aus gemeinsam genutzter Infrastruktur aus der sich keiner einfach so Entziehen kann.
Ein kleines Beispiel:
Der Maintainer A eines Softwareprojektes das Funktion XY der Philosophie seines Projektes widerspricht und lehnt einen Patch ab.
Der Entwickler B entwickelt daraufhin aus Basis der Projektes sein eigenes Projekt, dass erfolgreicher ist als das ursprügliche. Das ursprüngliche Projekt stirbt.
Der Führer A des Staates will keine Straße von X nach Y bauen, weil er den Naturschutz dort für wichtiger hält. Der Oppositionelle B will diese Straße aber bauen.
Ein Dilemma, weil eine Straße nicht gleichzeitig mit keiner Straße existieren kann.
Johannes, ich würde nicht sagen, dass zwingend schlechter bezahlte Jobs nur an Menschen gehen, denen es noch (als?) schlechter geht – im Falle von Spargelstechen wohl eher an Leute, die für den Lohn eine höhere Kaufkraft erhalten (nämlich außerhalb Deutschlands). Kommt aber auch immer auf das Gesellschaftsmodell an.
Danke für Deine hilfreichen Bemerkungen. Ja, man kann einen Staat nicht forken (manchmal schade) und daher ist einiges nicht ohne weiteres übertragbar.
Etwas zum Thema Bildung:
Es ist eine Mär das verbesserte Bildung zu einem besseren Leben führt. Wie Du schon richtig erkannt hast, sind die “guten” Jobs begrenzt. Es kann somit keinen sozialen Aufstieg für alle oder viele geben, sondern nur für sehr wenige. Meist ist das auch mit einem sozialen Abstieg für andere verbunden. Eine Ausnahme soll die Bildungsinitiative in der BRD in den 70ern gewesen sein. Da hat der Staat einen riesigen neuen Beamten-Apparat (vor allem Lehrer und Hochschuldozenten) geschaffen, wo dann Plat war für die jetzt auch studierenden Arbeiterkinder.
Es kann Gerechtigkeit in einem Konkurrenzmodell nicht geben (gleich ob auf individueller oder regionaler/globaler Ebene). Die Leute konkurrieren stets um ein begrenztes Gut, anstatt sich dieses fair zu teilen. Daher kann es keine sinnvolle politische Forderung sein, von Leuten Bildungsanstrengung etc zur Wohlstandssteigerung zu verlangen, da per Definition es Verlierer geben muss. Der Forderung könnten also nicht mal die Mehrheit nachkommen.
Konkurrenz ist schon der Irrweg, es lohnt sich nicht nachzudenken, wie diese sich abmildern lässt. Lieber Gehirnschmalz in die Frage, wie sich ein gerechtes System etablieren lässt, ohne das es despotische Züge erhält, noch von alten Besitzstandswahrern wieder entfernt werden kann.
Schöne Grüße,
Keywan
@Keywan: Bessere Bildung fuehrt grundsaetzlich erstmal zu einer hoeheren Lebensqualitaet, da Menschen kompliziertere Faehigkeiten beherrschen und so *eher* der Volkswirtschaft nuetzlich sind (allein schon durch die hoehere Vielfaeltigkeit).
Die guten Jobs sind immer begrenzt, allerdings ist ihre Anzahl nicht statisch und sie kann gemehrt werden, da es sich um keine abgeschlossenen Systeme handelt (Exportwirtschaft und Migration existieren).
Ich gebe Dir aber natuerlich recht, dass wenn die Anzahl (=der Zugang) auf gleichem Niveau beschraenkt zu besagter Bildung bleibt, es keine groesseren Vorteile geben wird. (Und ich denke wir sind uns eh einig bei der krassen Benachteiligung von Menschen aus schwaecheren Schichten bei gleichen Leistungen in Deutschland.)
Dennoch halte ich die Beschraenktheit nicht zwingend fuer falsch, wenn ich mich daran erinnere, wieviele meine Uni-Kommilitonen einfach faul waren und nur Studentenstatus aus Langeweile (oder Elternfinanzierung bei fortlaufender Vortaeuschung von Studienaktivitaeten) besassen. Vielleicht ist die Knappheit erstmal durch Loswerden dieser Leute anzupacken als durch weniger Zugangsbeschraenkung durch den Staat. Studiengebuehren sind ein Druckmittel, um Leute nochmal darueber nachdenken zu lassen, ob sie auch wirklich studieren wollen (und vielleicht auch mal Geld in Ihre Zukunft und Ausbildung investieren wollen, da ich persoenlich nur Kindergarten und Schule als zwingend umsonst ansehe, aber nicht universitaere Zusatzausbildung), in Kombination mit einem guten, funktionierenden Stipendiensystem (gerade an letzterem hapert es in Deutschland, vorallem, wenn es um musische (und nicht direkt in Geld umzuwandelnde) Studiengaenge geht), was aber wiederum zuvor eine faire Bewertung in der Schule voraussetzt, und so weiter……